Akt

Wilfrid Perraudin – Akt

Wilfrid Perraudin – Akt
1982 – Holzkohle auf Papier, 27x38 cm
Ref.-Nr. 2872 (Im Nachlass, unverkäuflich)

DIE AKTZEICHNUNGEN

von Hans H. Hofstätter
(Prof. Dr. Hans H. Hofstätter war von 1974 bis 1992 Direktor der Museen der Stadt Freiburg und des Augustinermuseums.)

Wilfrid Perraudin hat das Studium des menschlichen Körpers immer in sein Schaffen einbezogen. Aber es sind weit weniger gemalte Aktbilder entstanden als Aktzeichnungen. Das Zeichnen dient also nicht vordringlich der Vorbereitung von Bildern, obgleich auch dies vorkommt, sondern ist eine Übung, der ganz eigene Bedeutung zukommt. Die intensive Auseinandersetzung mit der Figur befähigt ihn schließlich auch zu allem anderen. Und so bedeutet Aktzeichnen auch einen Akt des Kraftschöpfens, des einsichtig Werdens, des unermüdlichen Aneignens vom richtigen Verhältnis der Proportionen, von den Beziehungen zwischen Umriß und Volumen, von den Ballungen und Überschneidungen der Formen. Aktzeichnen ist mit den Fingerübungen eines Pianisten vergleichbar, Strich wie Ton müssen auf Anhieb sitzen. Aber aus der Übung kann sich eine eigene Schönheit entwickeln, jede Etüde hat ihren besonderen klanglichen wie formalen Reiz.

Die Wirkung, welche eine Zeichnung mitteilt, steht immer auch in enger Beziehung zur Technik, mit der sie realisiert wird. Perraudin verwendet weiches, geschmeidiges Material; auch darin drückt sich sein Verhältnis zum Sujet, dem nackten, weiblichen Körper aus. Neben Bleistiften sind es vor allem weiche Kreiden, Kohle, der satt mit Farbe getränkte geschmeidige Pinsel. Alle Blätter vermitteln den Eindruck einer neugierigen, aber dennoch fast zärtlichen, behutsamen Beobachtung. Von dieser Seite gesehen sind sie nicht Fingerübungen, sondern Geistübungen, Meditationsübungen im Suchen und Finden von Schönheit, auch nach dem Motto: Wer suchet, der findet! Und Perraudin ist mit dem Talent begabt, zu finden – ohne Besessenheit, sondern im ruhig schauenden Suchen.

Das Ergebnis sind helle Blätter ohne Andeutung irgend einer Lokalität, darauf der nackte Körper, der in dieser Raumlosigkeit Raum schafft durch Volumen, Verkürzungen oder Überschneidungen, dessen Raum aber doch auf eine bemerkenswerte Weise auch Teil seiner raumlosen Umgebung ist. Dies resultiert daraus, daß die lichten Erhebungen in den Modellierungen das gleiche Papierweiß beinhalten wie die raumlose Umgebung und oft nur eine Linie das Körperhafte vom Raumlosen trennt. Das gleiche Weiß ist diesseits der Linie körperhaft, jenseits aber körperlos. Ist dieses Rätsel, diese Irritation des Auges nicht bedenkenswert?

Wie Perraudin dieses Verhältnis von Figur und Grund durchspielt, ist von Blatt zu Blatt ein neues Erlebnis. Er bleibt sich darin gleich, daß er niemals eine Figur so voll mit Schattierungen durchmodelliert, daß das Weiß des Grundes aus ihr fast verdrängt würde. Aber oftmals setzt er Ballungen von dunklen Verschattungen neben weitläufige, nur überwiegend helle Körperpartien. Manchmal umkreist er auch die lichten Körperteile mit seinen Verschattungen, so daß sie ganz vom Bildgrund abgeschlossen erscheinen, wie Inseln ohne Verbindung nach außen, doch unversehens ergeben sich neue Korrespondenzen, suggestiv die Schatten überspringend, weil das Weiß innen und das Weiß außen sich nicht isoliert sehen läßt.

Aber Perraudin lotet das Verhältnis von Grund und Figur auch noch ganz anders, in dem er auf Modellierung und Schattenformen manchmal ganz verzichtet. Die Figur tritt jetzt nur noch durch Linien in die Erscheinung ein, die aber keineswegs nur Umrißlinien sind, sondern das von ihnen umschlossene Volumen so umschreiben, daß es uns mit seinen Schwellungen, seiner weichen Nachgiebigkeit, seiner Gespanntheit und Biegsamkeit voll greifbar erscheint. Diese Linien haben eine Eleganz und eine abstrakte Schönheit ohne abstrakt zu sein, denn es ist die im Körper gefundene Schönheit, die sich in ihr ausdrückt. Und auch wo der Künstler absetzt, um neu anzusetzen, wo er auf etwas verzichtet, sagt er alles über das nicht Vorhandene so,  daß unsere Phantasie es dort einsetzt, wo er es weggelassen hat. So ergibt sich beim Betrachten unversehens ein Dialog zwischen Zeichnung und Betrachtendem, dessen Verlauf Perraudin vorbestimmt zu haben scheint.

Man könnte annehmen, daß diese »Strichzeichnungen« eine Essenz des ganzen Aktzeichnens wären, eine Konzentration aller Einsichten, die aus dieser Beschäftigung resultieren. Aber dies trifft nicht zu. Perraudin greift danach die früheren Arten des Zeichnens wieder auf, bis er wieder zur reinen Linie vorstößt. Der Vorgang wiederholt sich und mündet niemals in eine Manier, sondern in immer neue Offenheit für neue Entdeckungen.

Wenn wir weiter über das Verhältnis von Figur und Grund nachdenken wollen – es ist ein entscheidendes Problem in Perraudins Zeichnungen – dann ist festzustellen, daß eigentlich alle Blätter für die Figuren zu klein, bzw. die Figuren für die Blätter zu groß sind. Diese paradoxe Aussage ist so zu verstehen, daß nur auf ganz wenigen Blättern stehende Akte zu sehen sind, die genügend Bewegungsraum um sich vorfinden. Aber dieses Motiv der Standfigur interessiert Perraudin offensichtlich nicht, sondern er zeichnet Frauen, die, wenn sie sich aufrichten würden, alle keinen Platz auf der zur Verfügung stehenden Fläche hätten. Dies ist zweifelsfrei bemerkenswert. Die Modelle sitzen, kauern, liegen, krümmen oder beugen sich und werden in dieser Haltung blattfüllend aufs Papier gebracht.

Die Ursache ist rasch einzusehen: alles Flächenparallele interessiert diesen Künstler im Grunde nicht, nicht das frontale Stehen, noch das der Fläche entlang gleitende Liegen. Weil Perraudin die Figur in eine raumlose Umgebung versetzt, in einen Unraum, muß er allen Raum mit Hilfe der Figur selbst entstehen lassen. Und nur weil die Figur in ihren gekrümmten Stellungen besonders viel Raum braucht, man könnte sogar sagen: Raum verbraucht, wird das Vorhandensein von Raum ablesbar. Deshalb die Ausfüllung des ganzen Bildfeldes, weil dadurch die Raumfülle verstärkt wird. Deshalb diese immer wiederkehrenden Motive von Schrägansichten, von Verkürzungen oder der jähe Wechsel von der Vollansicht eines Teilkörpers zur verkürzten Ansicht des anderen. Das Problem von Raum und Fläche, eines der Grundprobleme jeder auf Fläche arbeitenden Kunst, wird von Perraudin in den Aktzeichnungen systematisch und intuitiv durchgearbeitet. Auch deshalb sind diese Zeichnungen ein Feld für Einsichten, die über das Sujet Akt hinaus Geltung haben.

Doch zuerst sind sie Aktzeichnungen, mit aller Zuneigung zum Gegenstand, mit aller Freude des Hinschauens, mit aller Genugtuung, das Metier so zu beherrschen, daß aus dem Geschauten ein neuer Gegenstand des Anschauens wird.