Zweiter Weltkrieg

Wilfrid Perraudin – Hildegard, dormant

Wilfrid Perraudin – Hildegard, dormant
1944 – 25x34 cm – Bleistift auf Papier
Ref.-Nr. 5412 (Verschollen)

Bereits vor Beginn des Zweiten Weltkriegs war die Stimmung in Frankreich äußerst angespannt. Als Vorkehrung gegen einen befürchteten deutschen Angriff wurden junge Männer mit bestimmten Fachkompetenzen für militärisch wichtige Industriezweige verpflichtet. 1940 wurde Wilfrid als technischer Zeichner zu dem Flugzeugwerk SNCASO – Avions Marcel Bloch befohlen.

Nach der Kapitulation Frankreichs wurde das Werk von der Besatzungsmacht konfisziert und zur Zweigstelle der Junkers Flugzeugwerke erklärt. Die gesamte französische Belegschaft wurde dienstverpflichtet, doch nach und nach wurde über die Hälfte der Beschäftigten als "travailleurs obligatoires" (STO-Gesetz) nach Deutschland abberufen. Aus Sicherheitsgründen wurden die ausländischen Arbeitskräfte in Deutschland aber nicht weiter in der kriegswichtigen Luftfahrtindustrie beschäftigt, sondern bekamen andere Arbeiten zugewiesen. So geriet mein Vater als Kulissenanstreicher (er war ja Maler) in die Atelierwerkstatt der Berliner Studios der Tobis-Filmkunst.

Glück im Unglück: Der dortige Filmarchitekt Gabriel Pellon erkannte schnell, dass Wilfrid mehr konnte, als Pappwände anstreichen. Der gebürtige Lothringer sprach fließend französisch, und es dauerte nicht lang, bis er Wilfrid eine adäquatere Arbeit vermittelte. Nun fertigte er Regieskizzen an, heute würde man es Storyboard nennen. Durch das gemeinsame künstlerische Interesse – Pellon hatte selbst Malerei studiert, begeisterte sich für den Kubismus und malte nach wie vor in seiner Freizeit – entwickelte sich eine enge Freundschaft. Zudem verliebte sich mein Vater Hals über Kopf in die junge Filmarchitektin, die Pellons Modellbauwerkstatt leitete. Sie hieß Hildegard Wiehl.

In diesen Personen hatte Wilfrid Fürsprecher gegenüber der Tobis-Direktion, und er bekam einen regulären Arbeitsvertrag, was ihn von den Zwängen der Dienstverpflichtung befreite. Er konnte sich freier bewegen, musste nicht mehr im Massenlager übernachten und nur ein Mal im Monat zur Kontrolle bei der Arbeitsdienststelle erscheinen.

Die folgenden zwei Jahre in Berlin waren seltsam paradox. In einem Land, in dem autoritär verordnet wurde, was Kunst sei und in dem alles, was diesen Horizont überstieg, als entartet galt, erlebte Wilfrid seine künstlerisch anregendste Zeit. Absurderweise befasste er sich hier weit intensiver mit Kubismus, Surrealismus, Dadaismus und den unterschiedlichen abstrakten Strömungen, als er es zuvor in Frankreich getan hatte, denn eine kleine Gruppe von Kulturschaffenden, die meisten aus dem Umfeld von Pellon und der Tobis, pflegte einen regen geistigen Austausch. Das Bewusstsein der äußeren Gefahr schweißte den Freundeskreis umso enger zusammen. Wilfrid sagte mir, dass diese eigentlich so schreckliche Zeit im Nazi-Deutschland für ihn zu einer der glücklichsten in seinem Leben zähle, denn die junge Liebe, die interessanten Freunde und die aufregende Existenz in dieser fast irreal erscheinenden Parallelwelt ließen die wirklichen Umstände in den Hintergrund treten.

Diese von ihm immer etwas romantisierte Zeit fand mit den Bombardierungen Berlins ein jähes Ende. Die Ereignisse überschlugen sich: Die Studios der Tobis wurden nahezu ganz zerstört, eine Weiterarbeit dort unmöglich. Hildegard fand ein Engagement bei der Firma Deutsche Zeichenfilm und konnte Wilfrid als Zeichner für Bildhintergründe mit ins Boot nehmen. Wegen der ständigen Bombenangriffe wurde die Firma wenig später nach Wien verlagert und in einem Barockschlösschen, einer Dependance des Belvedere, untergebracht.

Doch kaum hatte man hier die Arbeit aufgenommen, zog eine Abteilung der Luftfahrtforschung Wien in das Schlösschen ein und übernahm die Deutsche Zeichenfilm samt Belegschaft. Alle sollten sich auf technisches Zeichnen umstellen und die vorgelegten Skizzen und Tabellen in vermaßte Reinzeichnungen übertragen. Wie meine Eltern später erfuhren, zeichnete man an Bauteilen für die P13 eines Herrn Dr. Lippisch. Dieser Deltaflieger mit Raketenantrieb sollte das erste Überschallflugzeug werden, ein Projekt, das über die Entwicklungsphase nicht hinauskam (erst später griff man es in den USA, weiterhin unter Federführung von Dr. Lippisch, wieder auf).
Kaum hatte man die ungewohnte Arbeitsweise an den Zeichenmaschinen erlernt, standen diese auch schon wieder verwaist da. Ohne genau zu wissen, was vor sich ging, wurde die Belegschaft in einer Nachtaktion ohne Gepäck nach Prien am Chiemsee geflogen, wo die Luftfahrtforschung einen firmeneigenen Flugplatz hatte. Auslöser dieser erneuten Verlagerung war das Näherrücken der sowjetischen Truppen an die österreichische Grenze. Es nutzte wenig, denn in Bayern sollten aus der Gegenrichtung bald die Amerikaner vordringen.

Das einzige, was meine Mutter beim überstürzten Verlassen des Wiener Büros an sich nehmen konnte, waren ein paar Zeichnungen meines Vaters, die in ihrer Schreibtischschublade lagen und die sie hastig zusammengerollt in ein Papprohr steckte.

In Prien, am 1. Mai 1945, hörten meine Eltern bei einem befreundeten Kollegen heimlich über Kurzwelle, dass München in amerikanischer Hand sei, sich die US-Truppen Richtung Südosten bewegten und bereits kurz vor Rosenheim stünden. Eine frohe Botschaft, denn Rosenheim war nur 30 km entfernt. Zu Dritt konnten sie noch in derselben Nacht Richtung Westen fliehen, den Amerikanern entgegen. Sie zerrissen ein Bettlaken in drei Stücke, so hatte jeder seine weiße Fahne. Bei ihrem nächtlichen Fußmarsch schneite es. Als die drei am nächsten Morgen völlig durchfroren in Rosenheim eintrafen, war alles überraschend ruhig. In der Stadt hatte man glücklicherweise im letzten Augenblick entschieden, sich kampflos zu ergeben.

Auf einem Platz, auf dem bereits Kinder zwischen den Panzern umherrannten, sprach Wilfrid mittags einen US-Soldaten an, der die Drei zu seinem Vorgesetzten führte. Dass Wilfrid Franzose war, stellte sich schnell als Vorteil heraus. Nach einer strapaziösen, achttägigen Fahrt und mit mehrmaligem Umsteigen gelangten meine Eltern mit amerikanischen LKWs, die im Pendelverkehr aus dem Westen Nachschub holten, nach Paris.

Wir folgen nun Wilfrids weiterer Biografie, indem wir im Menü das Kapitel "Paris" anklicken.